Supermarkt ohne Personal
Sind Selbstbedienungsläden die Lösung für das Nahversorger–Problem?
Interview mit Prof. Dr. Stephan Rüschen
Quelle: Schwäbische Zeitung 18.09.2023
Von Sebastian Winter
Im ländlichen Raum soll ein neues Konzept die Lebensmittelversorgung sicherstellen. Das hilft vor allem in Zeiten von Personalmangel. Ein Experte sieht riesiges Potenzial.
Die Nahversorgung auf dem Land ist ein Problem, auch in Baden–Württemberg und Bayern. Große Supermärkte haben kleinere Dorfläden unprofitabel gemacht und sind für viele Menschen nur durch eine längere Autofahrt zu erreichen. Nun wollen kleine Selbstbedienungsläden, die ganz ohne Personal auskommen, das Problem lösen.
Warum sie ein großes Potenzial haben und welche politische Entscheidung aber das schnelle Aus der Läden bedeuten würde.
Herr Rüschen, seit 2020 sprießen in den ländlichen Gebieten Lebensmittelgeschäfte mit Selbstbedienungssystem aus dem Boden, auch in Baden–Württemberg und Bayern. Woher kommt der Trend?
Wir haben auf dem Land schon lange eine Unterversorgung. Traditionelle Lebensmittelhändler haben sich zurückgezogen, weil sie hier kein profitables Geschäft mehr führen konnten. In Orten mit 2.000 Einwohnern gibt es heute häufig gar nichts mehr: keinen Bäcker, keinen Metzger, keinen Tante–Emma–Laden. Die Menschen müssen oft zehn Kilometer zum nächsten Lebensmittelgeschäft fahren.
Es ist eine Versorgungslücke, welche die kleinen Selbstbedienungsläden schließen wollen. Weil sie ohne Personal auskommen, das bezahlt werden muss, kann man auch in kleineren Orten trotz wenig Umsatz noch ein profitables Geschäft betreiben. Für Kunden ist es zudem hochattraktiv, da die Läden auch sonntags offen haben. Insgesamt kann man sagen: Es ist eine Nische, die boomt.
Ein Supermarkt ohne Personal — wie funktioniert das?
Zum einen gibt es die sogenannten Walk–In–Konzepte. Hier geht der Kunde in den Laden, nimmt sich seine Produkte aus den Regalen, scannt sie selbst ein und bezahlt in der Regel bargeldlos. Das kennt man auch aus normalen Supermärkten. Daneben gibt es noch die Automated Boxes. Hier kann der Kunde nicht einfach in den Laden gehen und sich seine Produkte nehmen, sondern er wählt sie auf einem Bildschirm aus. Ein Roboter bringt dem Kunden dann seine Produkte. Wesentlich verbreiteter sind aber die Walk–In–Konzepte.
Das hört sich ein wenig nach einer Einladung zum Diebstahl an.
Das ist ein Thema, ja. Beim Self–Scanning kann ich, indem ich Produkte einfach nicht scanne, relativ einfach stehlen. Die Diebstahlquoten sind hier schon etwas höher sind als in Läden mit Personal. Aber letztlich ist die Quote nicht so hoch, dass es unwirtschaftlich wird.Es gibt außerdem Kameras in den Läden. Viele haben zudem eine Zutrittskontrolle über eine Kundenkarte oder App. Und wer klaut schon gerne, wenn er vor dem Betreten des Ladens gesagt hat, wer er ist?
Die Konzepte bauen auf Technologie. Vom Nahversorger–Problem im ländlichen Raum sind oft vor allem ältere Menschen betroffen. Kommen die damit zurecht?
Ja. Natürlich nicht jeder, aber es kristallisiert sich nicht als großes Problem heraus. Wir sind durchaus technikaffiner als wir uns oft selbst darstellen. Wenn die Menschen merken, dass sie etwas Neues erlernen müssen, um an etwas heranzukommen das sie möchten, dann tun sie das in der Regel auch. Es gibt auch schon in Seniorenresidenzen Läden mit Self–Scanning, beispielsweise in Stuttgart. Da würde man denken, dass das nie und nimmer funktioniert. Aber das tut es.
Und diese Läden lösen das Nahversorger–Problem im ländlichen Raum?
Sie sind nur ein Teil der Lösung. Die Menschen machen hier vor allem Ergänzungseinkäufe, Notkäufe, und Impulskäufe. Die Läden decken nicht den gesamten Bedarf und die Bedürfnisse der Bürger. Zum Vergleich: Ein Selbstbedienungsladen bietet zwischen 300 und 1000 Artikel an. In einem normalen Supermarkt kann der Kunde aus über 20.000 Produkten wählen. Trotzdem haben die Läden einen hohen Nutzen. Die Bürger in den betroffenen Orten sind sehr froh, dass sie nicht jedes Mal zehn Kilometer für eine Packung Nudeln, eine Milch oder einen Kopfsalat fahren müssen.
Was bieten die Läden denn an — und was nicht?
Sie haben eigentlich ein sehr breites Sortiment: Milch, Butter, Tiefkühlprodukte, Konserven und so weiter. In der Regel haben sie auch einen Bäcker, der sie jeden Tag mit frischen Produkten beliefert. Was die Läden nicht haben, ist Alkohol. Zum einen, weil man eine Alterskontrolle machen müsste. Das ist unbemannt nicht ganz einfach. Der Hauptgrund ist aber, dass man keine Spots schaffen will, wo sich nachts Menschen treffen und Alkohol konsumieren. Davon abgesehen findet man aber aus fast allen Segmenten Produkte.
Für welche die Kunden dann Tankstellenpreise bezahlen müssen?
Nein, Tankstellenpreise sind es nicht. Bei Tankstellen zahlt man gefühlt das Doppelte im Vergleich zum herkömmlichen Lebensmitteleinzelhandel. Zumindest ist es nicht weit davon entfernt. In den Selbstbedienungsläden ist das Preisniveau circa fünf bis zehn Prozent höher als im normalen Lebensmitteleinzelhandel.
Damit sich so ein System verbreiten und etablieren kann, muss es auch aus Unternehmersicht lukrativ sein. Ist es das?
Das ist eine der großen Fragen. Letztlich ist es so, dass einige zumindest die Expansion vorantreiben und daran glauben. Es gibt auch Modelle, die als Franchise arbeiten. Da muss das Modell schon so lukrativ sein, dass der einzelne Franchisenehmer damit sein Geld verdienen kann. Wie viel das am Ende sein wird, wissen wir Stand heute nicht. Aber es ist so, dass es nicht nur Start–Ups versuchen. Rewe, Edeka oder Tegut — ein großes Unternehmen aus Hessen — tummeln sich ebenfalls in dem Feld und wollen schauen, ob das eine Marktchance ist.
In Ihrer Studie kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Selbstbedienungsläden ein großes Potenzial haben. Warum ist das so?
Wir gehen davon aus, dass wir in Deutschland 8.000 unterversorgte Gebiete haben. Wenn man davon ausgeht, dass in jedem zweiten ein solcher Laden kommt, wären das 4.000 in Deutschland.Das Potenzial geht aber weit darüber hinaus, wenn man das Feld der unbemannten Läden nicht nur im ländlichen Raum sieht, sondern auf weitere Bereiche ausweitet: Bürokomplexe, Hotels, Hochschulen, Gewerbegebiete, Krankenhäuser, Freizeitparks und Tankstellen. Das Potenzial ist groß. In Baden–Württemberg haben wir aktuell etwa 70 bis 80 solcher Läden. Ich würde schätzen, dass es Ende 2024 eher 300 sein werden.
Was die Entwicklung noch kippen könnte: Es gibt einen Streit um die Sonntagsöffnung. Unter anderem das kirchliche Netzwerk „Allianz für den freien Sonntag“ will, dass die Läden sonntags schließen. Wie bewerten Sie die Diskussion?
Das Ende dieser Diskussion wird unfassbar wichtig. Denn klar ist: Ohne den Sonntag werden diese Läden nicht profitabel sein. Der Sonntag hat einen Wert von zwei bis zweieinhalb Verkaufstagen. Hier findet der meiste Umsatz statt. Aber in der Tat steht die Sonntagsöffnung rechtlich auf wackligen Beinen. Es braucht eine gesetzliche Präzisierung, wann und unter welchen Umständen die Läden sonntags offen haben dürfen. Es könnte zum Beispiel eine Flächenrestriktion geben, dass man sagt, bis 200 Quadratmeter ist das sonntags unbemannt möglich. Wenn die Diskussion letztlich zu dem Ergebnis führen sollte, dass — so wie es die Gewerkschaften und Kirchen wollen — die Sonntagsöffnung generell untersagt wird, wäre das das ganz klare Aus dieser Konzepte. Das kann man so eindeutig sagen.
Zur Person
Professor Stephan Rüschen
Stephan Rüschen ist Professor für Lebensmittelhandel an der DHBW Heilbronn und forscht zu den Läden, die es hierzulande immer häufiger gibt.